Wie alles kam - Die Geschichte des atelier 9

Neun StudentInnen, einander bekannt durch gemeinsame Arbeitsgruppen und Studien-Reisen, finden sich mit einer guten, von Professor Rüdiger Stoye heftig unterstützten Idee, ein Gemeinschaftsatelier zu gründen, zusammen.

Der Sprung ins kalte Wasser »Ernst des Lebens« scheint so wesentlich leichter und lockerer umsetzbar.

Im freundlichen Hamburger Stadtteil Eimsbüttel findet die Gruppe in einem Werk-Hinterhofgebäude im 3. Stock 140 qm kahlen Raum – vormals Speicher, dann Buchbinderei –, der nach kreativer Aneignung und Profilierung geradezu schreit.

In Silvesterlaune (1993/94) wird auf einer provisorischen Party in den noch nicht bezogenen heiligen Hallen von 1993 nach 1994 selbiger in Beschlag genommen und eingeweiht. Ein kleiner Kachelkohleofen und zwei noch kleinere Kohleöfen (welche in den darauffolgenden Jahren Schwierigkeiten haben werden, die neun IllustratorInnen warm zu halten) werden für diesen einzigen Abend durch einen luxuriösen Gebläseofen unterstützt.

In den ersten Wintern gewährleisten Handschuhe, heiße Fußbäder und Tees, Schals und Schlafsäcke einen halbwegs temperierten Arbeitstag und qualitativ gute Illustrationen.

Kerstin Meyer (in den ersten Monaten Gastillustratorin) und Volker Fredrich erweisen sich als die tapfersten Winterarbeiter ...

Eine noch nicht voll auslastende Auftragslage ermöglicht den Mitgliedern weiterhin Experimentieren und freies Arbeiten. Die Werke werden in zahlreichen Gemeinschaftsausstellungen außerhalb des Ateliers der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Ausstellungsorte sind u. a. Scholz & Friends, Beiersdorf, Katholische Akademie Schwerte, Rathaus Wedel, Rathaus Norderstedt, Thalia Buchhandlung.

Anfang des Jahres 1995 wird die erste Jahresausstellung in den eigenen Räumen geplant. Das bis dahin noch namenlose Atelier wird nicht zuletzt aus diesem Anlass in nächtelangen Brainstorm-Sitzungen und nach etlichen Vorschlägen und Verwerfungen auf der Küchenschiefertafel schließlich zum »atelier 9«. Mit in der Endrunde waren »Lürlitt«, »Alta Mira«, »Scholle 3«, »3 Bilder West« und »Mäander«.

Im Mai 1995 ist es dann soweit: Die Ausstellung wird realisiert und der Plan gefasst, ihr einen regelmäßigen Termin einzuräumen. Es soll immer eine Auswahl der innerhalb eines Jahres im Atelier entstandenen Werke zu sehen sein.

Sven Wohlgemuth verlässt im Herbst 1995 das atelier 9 in eine größere Werkstatt, mit der Aussicht, großzügiges Arbeiten an seinen überdimensionalen Werkformaten besser umsetzen zu können.

Dank Branchen-Doyen Jens Thiele, der die 2. Jahresausstellung eröffnet und einem doppelseitigen Artikel im Börsenblatt macht das atelier 9 einen wichtigen Sprung und etabliert sich in der Verlegerbranche als professioneller Illustratoren-Pool.

1996 schließen die restlichen acht IllustratorInnen eine Berufshaftpflichtversicherung ab, nach der ersten Erfahrung mit Hochwasser durch einen geplatzten Durchlauferhitzer. Am unfreiwilligen Fußbad im dritten Stock sollen die drei unter dem Atelier gelegenen Werkstätten teilnehmen. Es bestätigen sich sympathische Nachbarschaftsverhältnisse.

1997 gründen zehn AutorInnen gemeinsam mit den acht IllustratorInnen des atelier 9 im Atelier die »Hamburger Lesesnacht e. V.«. Mit Lesungen und Illustrations-Workshops, die vor Ort in den Schulen stattfinden (mit anschließendem Übernachten in den Schulräumen), ist ein neues, aufregendes Erlebnis für Kinder geschaffen.

Neben der etablierten Lesenacht finden in den darauf folgenden Jahren immer wieder verschiedenste Veranstaltungen (Workshops und Atelierbegehungen) statt. Der direkte Kontakt zwischen IllustratorInnen und den Kindern bereichert alle.

Das Interesse der Presse für das atelier 9 führt zu zahlreichen Beiträgen in Tageszeitungen, Bezirkszeitungen, Fachmedien und im Fernsehen.

Der gründlichste aller Frühjahrsputze findet im Jahr 1997 statt – Stichwort Rattenjagd mit Nudelglas. Nach vielen kreischvollen, kreativen und ebenso lustigen Selbstversuchen, einem unliebsamen Mitbewohner die Untermiete zu kündigen, helfen schließlich doch nur die Methoden des Experten. Seither sorgen nur noch naturgetreu selbstgebastelte Ratten für Spaß und Schrecken.

Vor dem Winter 1997 findet die lang ersehnte Heizungssanierung statt. Ab sofort gehören neun luxuriöse Heizkörper zum stolzen atelier 9. Drei Öfen gehen in Rente und die fortan entstehenden Bilder zeichnen sich wegen des nun fehlenden Kohlenstaubs durch einen eindeutig helleren, freundlicheren Farbeindruck aus.

Im Rahmen atelierinterner Familiengründungspläne verlassen Astrid Krömer und Wolfgang Slawski im Sommer 1997 das Atelier; Edda Skibbe folgt kurz darauf. Die 3 gründen eine Zweigstelle am neuen Wohnort, das atelier 9 in Kiel.

Es fällt der Beschluss für die drei Ausgezogenen nur noch ein weiteres Mitglied aufzunehmen. Durch größere Umbauarbeiten entstehen sechs großzügige Arbeitsplätze. Den zu diesem Zeitpunkt freien nimmt Katrin Engelking ein.

Neben einer Reihe anderer öffentlicher Veranstaltungen in der Sillemstraße 60a wird das Atelier 2000 wieder einmal für einen Abend zum Ort öffentlichen Interesses; zur Präsentation des von Katrin illustrierten Buches und Musicals »Es lebte ein Kind auf den Bäumen«. Ehrengäste sind Autorin Jutta Richter und Komponist Konstantin Wecker.

Aus persönlichen Gründen (Umzug nach Düsseldorf) verlässt Katrin Engelking das atelier 9 im Frühjahr 2000. Für sie tritt Sabine Dittmer als langjährige Freundin des s ein, mit dem Hintergrund, das Atelier um eine sehr frei arbeitende Illustratorin zu bereichern.

Zwei Monate später kommt Margit Gröpel für Reinhard Schulz-Schaeffer, dessen Arbeitsmittelpunkt sich auf eine Festanstellung in einem Verlag (als Infografiker) verlagert hat. Heute bekleidet Reinhard einen Lehrstuhl für den Fachbereich »Informative Illustration« an der FH Hamburg, heute »Hochschule für Angewandte Wissenschaften«.

Mit Margits Eintritt wird dem Wunsch nach Ergänzung der Atelierkompetenz im Computer- und Grafikbereich entsprochen. Seither finden während des oft ausgedehnten Frühstücks neben einem interdisziplinären Diskurs über Gestaltung auch vermehrt philosophische und psychologische Themen Raum.

Im Oktober 2002 verlässt Volker Fredrich als werdender Vater das atelier 9 und öffnet eine eigene Präsenz nahe seines Familienstützpunktes in Ottensen. Während Volker sich dem atelier 9 weiterhin zugehörig fühlt, übernimmt Maler und Illustrator Felix Eckardt seinen Platz in den Räumen der Sillemstraße 60a als Quotenmann und Jungbrunnen.

Im Juni 2005 verlassen Margit und Felix das Atelier, um ein Haus weiter ein neues Atelier zu gründen. Die neuen Ateliermitglieder sind seitdem Juliane Plöger - bekannt durch ihre Illustrationen, welche aus Plakatausrissen entstehen - und Janice Brownlees-Kaysen, die nach einer Mutterschaftspause den Wiedereinstieg ins Berufsleben realisiert.

Ein Jahr später, im August 2006, kommt die renommierte Kollegin und langjährige Freundin Henriette Sauvant für Janice ins atelier 9. Henriette ist bekannt durch ihre realistischen Malereien und hat zahlreiche Preise für ihre Bilderbücher erhalten.

Im Jahr 2008 finden auf dem Gewerbehof in der Sillemstraße 60a, im und rund ums atelier 9, große Sanierungsarbeiten statt. Die Nerven liegen blank, aber nicht nur die langersehnten winddichten Fenster, sondern auch ein neuer Hausanstrich und vieles mehr gleichen die Strapazen aus.

Im April 2009 wechselt Henriette aus privaten Gründen ihren Standort. Ihren Arbeitsplatz übernimmt der Zeichner, Illustrator und Dozent Felix Scheinberger.

Sebastian Koch, Tobias Pahlke, Gabie Hilgert, Birgit Waberski, Wolfgang Slawski, Astrid Krömer, Karoline Kehr, Edda Skibbe, Juliane Plöger, Elisabeth Holzhausen, Felix Scheinberger

(hinten) Sebastian Koch, Tobias Pahlke, Gabie Hilgert, Birgit Waberski, Wolfgang Slawski
(vorne) Astrid Krömer, Karoline Kehr, Edda Skibbe, Juliane Plöger, Elisabeth Holzhausen, Felix Scheinberger

Im Laufe des Jahres kündigen Sabine Dittmer, Gabie Hilgert und Juliane Plöger an, das atelier 9 in Eimsbüttel zu verlassen. Gabie Hilgert öffnet die Zweigstelle „atelier 9 / Elbinsel“ in Wilhelmsburg, in der Nähe ihres Wohnortes.

Aufgrund einer drastischen Mieterhöhung ab 2010 fällt der Beschluss, durch größere Umbauarbeiten weitere bzw. größere Arbeitsplätze zu schaffen.
Für Gabie, Juliane und Sabine bereichern nun 7 neue Mitglieder die Ateliergemeinschaft:
Als langjährige Freundin zieht die Autorin, Illustratorin und Broadcast-Designerin Christine Kleicke mit ihrem Computer ins Atelier.
Aus Mainz reist der Trickfilmer, Zeichner und Illustrator Sebastian Koch an und arbeitet im gemeinsamen Raum mit Felix, bei dem er einst studierte.
Von „Umme Ecke“ kommen gleich drei: Der Kommunikationsdesigner und Illustrator Tobias Pahlke und die Illustratoren und Animatoren Till Laßmann und Steven Bagatzky. Da auf Stevens Arbeitsplatz nur ein Computer steht, ist auch noch genug Platz für seine Lebensgefährtin Maike Plenzke – noch Studentin an der HAW Hamburg. Und zwischen Berlin und Hamburg pendelt die Literaturwissenschaftlerin und Schulbuchredakteurin Birgit Waberski, die sich mit ihrer Lebensgefährtin Karoline einen Raum teilt.

Im November 2010 findet im atelier 9 nach Umstrukturierung und 2-jähriger Pause endlich wieder eine Jahresausstellung statt. Zur Begrüßung spricht Dr. Birgit Waberski:

Atelier-Ausflug im Sommer 2010

Atelier-Ausflug im Sommer 2010

„Liebe Besucherinnen und Besucher, liebe Freundinnen und Freunde des Atelier 9.

Seit dem ersten Jahr seiner Gründung haben Sie in jedem Jahr eine Werkschau des Atelier 9 sehen können. Vierzehn Ausstellungen sind es gewesen, die in diesen Räumen stattgefunden haben, viele gemeinsam mit dem Kieler Atelier 9, von 1995 bis 2008.

Dann schien es still zu sein um das berühmte Atelier 9, das erste und älteste Gemeinschaftsatelier. Zwei Jahre gab es keine Ausstellung von Kinderbuchillustration und freier Kunst in diesen Räumen. Ein Jahr spielten unsre Pellegrino Undergrounds hier nicht mehr auf.

Allerdings: Keine Spindel hatte die sechs lieblichen Damen gestochen, die hier arbeiteten und lebten, und niemand verschlief die Zeit hinter dornigen Blumenrabatten.
Es war eine Phase des Aufbruchs und der Erneuerung.
Gabie Hilgert, einstige Mitbegründerin, Sabine Dittmer, Juliane Plöger und Henriette Sauvant verließen das Atelier und zogen hinaus in die Welt:
Sie schlossen sich anderen Ateliergemeinschaften an, arbeiten für sich oder gründeten eine neue, kleine „Zweigstelle Wilhelmsburg“. Das Fürchten jedenfalls haben sie alle dabei nicht gelernt.
Es blieben die Hüterinnen des Herdfeuers: Elisabeth Holzhausen und Karoline Kehr.

Den Gründungsmüttern sind junge, aufstrebende Illustratoren zugewachsen, und es gehört nicht ins Reich der Legenden, dass diese vor Aufnahme ins Atelier gefragt wurden, wie es denn so um ihre Kochkunst bestellt sei. (An dieser Stelle bestehen die Frauen auf die Erwähnung der Tatsache, dass sie aber auch häufig den Müll herunter tragen.)

Einer kam aus Israel und suchte neues Heim, drei kamen gleich von „Umme Ecke“, einer stieg noch vom „Dachwerk“ hinab. Und so fand sich nach und nach das neue Atelier: die fotografisch arbeitende Künstlerin, die illustrativen Kommunikationsdesigner, die Zeichner, Trickfilmer und Kinderbuchillustratorinnen.

Birgit Waberski bei der Arbeit...

Birgit Waberski bei der Arbeit...

Kaum ein Stein blieb auf dem anderen.
Im letzten Winter jedenfalls gab es hier nicht die Spur einer besinnlichen Weihnachtszeit und keine der Nächte war still. Hier wurde geschraubt, gehämmert und gesägt. Dünne Bretter gebohrt und dicke Bretter. Wände wurden eingerissen, versetzt, aufgebaut. Tapeten wurden angeklebt, fielen wieder runter und wurden wieder angeklebt. Es wurde gemalert und Möbel wurden gebaut. Und ich habe gelernt, dass Rigips überhaupt nichts mit dem scheuen Waldtier von Ringelnatz zu tun hat und dass man eigentlich nie genug Karosseriescheiben im Hause haben kann.

Nun beherbergt das Atelier wieder acht Künstlerinnen und Künstler, Illustratorinnen und Illustratoren. Und vielleicht war es nie so illuster wie jetzt.
25 Lebensjahre liegen zwischen den jüngsten und den ältesten Ateliermitgliedern. Hier treffen Generationen aufeinander und unterschiedlichste Schaffensformen. Aus dem einstigen Kinderbuchatelier der Illustratorinnen und Illustratoren überwiegend aus der Schule Rüdiger Stoyes ist eine Gruppe Kunstschaffender geworden, die von der inszenierten Landschaftsfotografie bis zur Schulbuchillustration, von der Postkartenzeichnung bis zur Tapetengestaltung, alles zu zeigen hat. (...)

Für heute aber will ich Ihnen nicht länger die schönen Aussichten versperren. Gehen Sie durch die Räume und lassen Sie sich einnehmen, inspirieren und beglücken von dem, was Sie sehen. Viel Spaß bei der Atelier 9 Ausstellung 2010.“

Im Jahr 2014 sind alle alten und neuen Ateliermitglieder zu Nestflüchtern geworden; in Zeiten, in denen Häuser zu Spekulationsobjekten werden und Mietpreise in die Höhe schnellen, sind gewerblich genutzte Räume kaum zu halten. Die Räume in der Sillemstraße werden aufgegeben und die letzten Mitglieder, Karoline Kehr, Elisabeth Holzhausen, Christine Kleicke und Tobias Pahlke, arbeiten nun auch wie Gabie Hilgert, Astrid Krömer, Wolfgang Slawski und Edda Skibbe in einzelnen Ateliers weiter. Immer wieder mal trifft sich die alte Riege zum Austausch und bleibt einander immerwährend als Ateliergemeinschaft atelier9 verbunden.